Herta Müller: Im Haarknoten wohnt eine Dame

Herta Müller hat neben ihrer großen Prosa-Arbeit und ihren weitblickenden Essays in den letzten Jahren zu einer Textproduktionsweise gefunden, die auf den ersten Blick als ein starres formales Raster erscheinen könnte, in das die poetische Inspiration zu zwängen sei: Sie schneidet, wie man es aus anonym bleiben wollenden Erpresserbriefen kennt, aus den Überschriften von Zeitungen und Illustrierten einzelne Silben, Wortteile und Worte aus und bildet damit Gedichte. Diese Gedichte folgen einem einfachen, nahezu zwanghaften Versmaß, das von dem so aus den Zeitungen gesaugten Wortmaterial mit zwingendem Rhythmus und Endreim erfüllt wird. Der Gehalt dieser Gedichte hat ebenso etwas Besessenes an sich: Im Verlauf der einzelnen Gedichte kippt ihr Inhalt aus der vermeintlichen Lieblichkeit der ersten Verse häufig ins Unausweichliche, Groteske, Furchtbare der Vers- und Gedichtschlüsse. Das Korsett der Materialmontage erweist sich als frei zu jeder inhaltlichen Gestaltung, wobei das abstrakte Furchtbare zwingender erscheint als der formale Zwang. Das Gefundene aus den banalen Vorlagen wird so als etwas entlarvt, das die Spuren des Merkwürdigen und Beängstigenden womöglich schon in sich trägt. Josef Winklers Novelle Natura morta beschreibt eine abgeschlossene Begebenheit auf einem berühmten römischen Markt. Ein junger Mann kommt in einem Gewitter bei einem Autounfall zu Tode. Innerhalb des Winklerschen Erzählens wird dieses einfache, wenngleich traurige Ereignis aus dem tatsächlich Existierenden in die poetische Sphäre der gestalteten Wahrnehmung und Ereignisfolge gehoben. Was passiert, ist untrennbar mit dem verknüpft, wie es erzählt wird. Das ausgreifende, rundum sich in der Sinnlichkeit und Fleischlichkeit der feilgebotenen Eßwaren auf dem Markt ergehende Abschildern erschafft tatsächlich so etwas wie ein Stilleben eines unheilvollen Tableaus. Dieses Tableau aber, das das Nebeneinander der sinnlichen Eindrücke auszeichnet, verweist auf wunderbare Art auf das, was sich in dieser Umgebung ereignet. Das Lustvolle, Lüsterne des erzählenden Blicks auf das Alltägliche des Marktgeschehens läßt dieses umschlagen ins Außergewöhnliche, Ahnungsvolle, Unheilschwangere, das das reale Unglück vorhersehen läßt.

Infos & Tickets

Di / 18.11.2003